Die Anfänge

Eignungsdiagnostik begleitet mich mein ganzes Berufsleben. Heute bin ich als Managementdiagnostiker immer noch sehr aktiv. Während meiner Promotion hatte ich das Glück, zwei Größen auf dem Gebiet der Eignungsdiagnostik zu begegnen, von denen ich ein Know-how vermittelt bekam, das für einen Studenten nicht so ohne Weiteres zugänglich ist. Der eine war Rudolf Amthauer, der durch seine Entwicklung des 1953 veröffentlichten Intelligenz-Struktur-Tests (IST) bekannt wurde. Er war für Hoechst tätig und lehrte Arbeits- und Betriebspsychologie in Frankfurt. Der andere war Werner Corell, der Verhaltens-, Motivations- und Lernpsychologe und Ordinarius für Pädagogische Psychologie in Gießen.

Von Correll erwarb ich fundamentales Wissen auf dem Gebiet der Persönlichkeitsdiagnostik, das – anders als rein methodisch basierte Intelligenzmessung – ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit in der sozialen Wahrnehmung, absolute Neutralität, Empathie, analytische Fähigkeiten und die Vermeidung von Projektionen (von sich auf den anderen schließen, im anderen sehen, was man gern sehen möchte) verlangt.

Als ich 1978 erste eigenständige Gutachten verfasste, waren Themen wie Personaldiagnostik und Managementdiagnostik Neuland in Deutschland. Meinen Auftraggebern (Konzernen und Mittelstand) lieferte ich nach acht Stunden intensiver Beschäftigung mit Kandidaten strukturierte Informationen zu deren Intelligenzstruktur, ergänzt um dezidierte Aussagen zum Persönlichkeitsbild. Das half nicht nur den Auftraggebern, ihre Entscheidung durch eine differenziere Expertise und neutrale dritte Meinung abzusichern. Das half ebenso den externen und internen Bewerbern, ihr Selbstbild von den eigenen Stärken und Lernfeldern anzureichern.

Im Laufe der Jahre wurde das Thema bekannter, die Zahl der Berater nahm rasant zu und das Unterscheiden von Experten und solchen, die sich geschickt als solche verkaufen, wurde für Auftraggeber schwieriger.

Heutiger Stellenwert

Inzwischen gibt es wissenschaftlich weit verbreitete Standards und Eignungsdiagnostik hat sich im Personalwesen etabliert. Bei der Auswahl von Führungsverantwortlichen oder Mitarbeitern stellt sich immer die Frage nach deren Eignung. Dabei kann es sich um die Eignung im Allgemeinen handeln, um die Identifikation des Potenzials oder es geht um die spezifische Eignung. Das ist ein Abgleich zwischen Anforderungen für die Übernahme einer bestimmten Rolle und dem sich dafür bewerbenden Menschen mit seiner Motivation, seinen Potenzialen, seinen Werten, seinem Wissen, seiner Erfahrung. Sich dabei zu irren, hat für beide Seiten unliebsame Konsequenzen. Für das Unternehmen kann es teuer werden. Der Bewerbende könnte über- oder unterfordert werden, wenn Sollen und Können zu weit voneinander abweichen.

Bei der reinen Intelligenzmessung müssen die Anwender das Verfahren – meist online – kennen, um methodisch richtig vorgehen zu können. Bei der Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen ist der Anspruch an Anwender ungleich größer. Von psychometrischen Verfahren (Fragebogen) abgesehen, die im Handling denen der Intelligenzmessung ähnlich sind, sind hohe Anforderungen an die Qualität der Berater zu stellen. Die Intelligenzmessung hat heute an Bedeutung verloren. Schon Amthauer hat in den 1950er Jahren nachgewiesen, dass das Messergebnis von zahlreichen Faktoren beeinflusst werden kann und deshalb immer mit Vorsicht zu verwenden ist. Es sind nicht nur Tagesverfassung und räumliche Umgebung einflussgebend und damit ergebnisverfälschend. Es geht vor allem auch darum, zwischen theoretischer und nutzbarer Intelligenz zu unterscheiden. Wer im fluiden Denken stark ist, kann mit einem geringeren IQ mehr erreichen als jemand mit einem hohen IQ und kristalliner Denkgewohnheit. Auch Motivation und Extraversion beeinflussen die Nutzbarkeit der Intelligenz nicht unwesentlich. Bei jungen Menschen hat zudem die Messung der Intelligenz noch eine andere Aussagekraft als bei älteren mit höherem Reifegrad, die durch Wissen und Erfahrung angereichert ist. Bei Managern und Führungsverantwortlichen stellen sich noch ganz andere Fragen. Hier kommt es weniger auf die theoretisch vorhandene Intelligenz an. Hier ist der Erfolg ohne emotionale und soziale Intelligenz, ergänzt um Handlungskompetenz, nur schwer vorstellbar.

Ansprüche an Managementdiagnostik

Bei der Auswahl von Top-Managern und Führungsverantwortlichen auf den oberen Etagen – womit ich mich vorwiegend beschäftige – spielen auch psychometrische Messverfahren eine untergeordnete Rolle. Sie dienen allenfalls als Beiwerk, um das Selbstbild zu erfassen, das dann im Endergebnis dem Fremdbild gegenübergestellt wird. Der recht hohe Verzerrungswinkel im Ergebnis psychometrischer Verfahren kann zu gravierenden Fehlentscheidungen führen, zumal wenn sich Kandidat A auf das Verfahren eingelernt hat und Kandidat B nicht so raffiniert war, sich diese Tests im Internet zu besorgen.

Eignungsdiagnostik liefert Hilfen und Anhaltspunkte beim Treffen von Auswahlentscheidungen. Da liegt es auf der Hand, die Verfahren auf die Ansprüche des anwendenden Unternehmens abzustellen.  Mein Team und ich entwickeln unsere Verfahren ständig weiter und achten darauf, dass Validität (Gültigkeit) und Reliabilität (Objektivität) als Gütekriterium stimmen. Wichtig ist zudem der atmosphärische Faktor bei der Ist-Aufnahme und später beim Ergebnisgespräch mit dem Kandidaten. Denn den besten Bewerber zu verpassen und einen weniger geeigneten zu wählen, kann über Jahre sehr teuer für das Unternehmen werden. Dass sich ein Bewerber in der Probezeit als ungeeignet erweist, sollte durch die Messgenauigkeit verhindert werden. Aber auch ein „durchaus“ geeigneter Bewerber kann nicht zufriedenstellen, wenn er die ihm im Ergebnisgespräch gegebenen Informationen für seine persönliche (Weiter-)Entwicklung nicht nutzt.

Was eine DIN-Norm leisten kann

Es gibt eine DIN-Norm 33430 für berufsbezogene Eignungsdiagnostik. Diese wurde von Fachleuten aus Wissenschaft und Wirtschaft in einem Arbeitsausschuss des Deutschen Instituts für Normung mit größter Sorgfalt entwickelt. Wer will, kann sich entsprechend zertifizieren lassen. Das reicht aber nicht aus, um ein qualifizierter Diagnostiker zu sein. Wir wissen von Auto- und Motoradfahrern, dass es bezüglich ihrer Fahrqualität und -sicherheit starke Unterschiede gibt. Diese sind in der Regel nicht auf die Qualität der Fahrlehrer und Prüfer zurückzuführen. Die Norm (Straßenverkehrsordnung) ist von Experten und den Fahrschülern vermittelt worden. Trotzdem ist die Zahl der auf Fahrfehler zurückzuführenden Unfälle recht hoch, ganz zu schweigen von den Rechtsverletzungen im Straßenverkehr, von denen nur die wenigsten in Unfällen münden.

Nicht anders ist eine DIN-Norm für Eignungsdiagnostik einzustufen. Rein theoretisch gewährleisten die Standards, dass für alle, die den Prozess durchlaufen, die gleichen Bedingungen gelten. Durch systematische und effektive Herangehensweise soll sich Diagnostik auf das Leistungsvermögen der Personen konzentrieren, die gerade das Verfahren durchläuft. Das ist einfacher gesagt als getan.

Der Berater ist das Gütesiegel

Da ich mit meinem Team in früheren Jahren schlechte Erfahrungen mit Kurzzeitmessungen gemacht habe, sind wir insbesondere bei der Eignungsmessung von Top-Managern und oberen Führungsverantwortlichen zu zeitintensiven Ist-Aufnahmen übergegangen. Dabei unterscheiden wir ein großes und ein kleines Verfahren. Das große erstreckt sich über 7–8 Stunden Ist-Aufnahme, das kleine über 4–5 Stunden. Den Umfang unserer Ergebnisberichte passen wir an die Bedürfnisse der Auftraggeber an, sodass ein ausführlicher Bericht (Gutachten) ca. 35 Seiten umfasst. Auf besonderen Wunsch liefern wir sehr kompakte Berichte, die sich auf das Messergebnis in grafischer Form beschränken, ergänzt um ein Resümee mit Darstellung der Erfolgsfaktoren und Erfolgsrisiken. Jeder unserer Berichte erhält aber immer eine klare Empfehlung auf einer vierstufigen Skala sowie die konkrete Beschreibung möglicher Entwicklungsfelder.

Bei mir haben im Laufe der Jahrzehnte viele Berater mehr als nur das Handwerkszeug von Managementdiagnostik gelernt. Das Verfahren in seinen Ablaufstufen zu beherrschen, ist zwar eine unbedingte Voraussetzung für qualitativ anspruchsvolle Managementdiagnostik. Aber damit ist es nicht getan. Beim Klavier geht die Gefahr falscher Töne nicht vom Instrument, sondern vom Pianisten aus. Diese Erkenntnis ist eins zu eins auf den Anspruch an Diagnostiker zu übertragen. Das Interview zur Ist-Aufnahme sowie das Einsetzen von über das Gespräch hinausgehenden Tools (Übungen, Aufgaben, Formulare) verlangt höchste Sensibilität. Der Umgang mit dem Gegenüber muss atmosphärisch vom Kandidaten als angenehm erlebt werden, wenngleich er niemals bequem ist. Der Kandidat muss über Stunden unentwegt liefern, der Diagnostiker mit höchster Konzentration aufnehmen. Stress beim Kandidaten zu erzeugen ist das falsche Mittel, ihn mit all seinen Facetten kennenzulernen. Unter Stress geht ein Mensch automatisch in seinen Notlaufmodus zum Zwecke des Selbstschutzes.

Beispiele für professionelle Diagnostik

Ein narratives Interview bedeutet nicht, dass der Diagnostiker von sich erzählt, sondern dass der Kandidat in Redefluss kommt zu jedem Thema, das der Diagnostiker in den Raum stellt. Fragen, die der Kandidat mit Ja oder Nein beantworten kann, sind dabei denkbar ungeeignet. Der Kandidat hat nicht zu sein, wie ihn der Diagnostiker haben möchte. Der Diagnostiker hat sich sensibel und mit unverzerrter Wahrnehmung auf den Kandidaten einzustellen, um wohlwollend zu erfassen, was diesen ausmacht. So sollte ein konstruktiver Spannungsbogen zwischen beiden entstehen.

Jede auch nur sanfte Art von Manipulation oder Beeinflussung kann zu einem verfälschten Ergebnis führen. Oft höre ich, dass das ja wohl selbstverständlich sei. Das ist es eben nicht! Jede suggestive Frage oder Bemerkung ist ein Beitrag zur Ergebnisverfälschung. Beispiele: „Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie…?“ (Hier wird dem Kandidaten möglicherweise etwas in den Mund gelegt, was er nicht gesagt hat, aber gern gesagt hätte). „Wie erfolgreich waren Sie damit?“ (Hier wird Erfolg suggeriert, den es möglicherweise nicht gegeben hat).

Diagnostiker zu sein heißt, über Stunden Neutrum zu sein. Das ist nicht „Pokerface“, das ist aufgeschlossene, freundliche Empfangsbereitschaft. Das Gegenüber versucht vielleicht, den Diagnostiker zu verwickeln, für sich einzunehmen. Das darf auch bei einem noch so sympathischen Menschen nicht passieren. Als Diagnostiker arbeite ich auf einer anderen Kommunikationsebene, die mich analytisch in der Balance der Objektivität hält.

Obligatorisch für eine professionelle Arbeit als Diagnostiker ist außerdem, dass der Kandidat abgeholt und einfrequentiert wird, bevor die eigentliche Ist-Aufnahme beginnt. In dieser Phase soll der Kandidat die Fragen loswerden, die er dem Diagnostiker gern stellen würde. Es wird auch erklärt, warum er im Gesicht des Diagnostikers oder durch anderweitige Verhaltensweisen nicht lesen kann, ob er mit den Antworten des Kandidaten mehr oder weniger zufrieden ist (jede Art von Beeinflussung ist tabu).

Ich habe mich in diesem Beitrag nur auf einige wesentliche Merkmale beschränkt. Wer sich für eine Ausbildung zum Diagnostiker interessiert, kann sich gern melden. Dafür habe ich kein Standardprogramm, weil die Interessierten ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, die es individuell zu erweitern gilt. 

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